jueves, 17 de febrero de 2011

SAVIANO: "WARUM LIEBEN VIELE ITALIENER BERLUSCONI?"

ITALIENWarum lieben viele Italiener Berlusconi?

Er hat Schwächen. Er umgeht Vorschriften. Er ist Chef von einem großen Harem. Dennoch ist vielen Italienern ihr Premierminister nicht peinlich. Von Roberto Saviano

Der italienische Autor Roberto Saviano (31) wird von der Mafia bedroht

Der italienische Autor Roberto Saviano (31) wird von der Mafia bedroht

Warum schätzen und lieben die Italiener Silvio Berlusconi noch immer –trotz seiner Skandale und Prozesse?

Lange Zeit haben ausländische Beobachter und Medien Berlusconi als eine Art Karikatur missverstanden. Das war ein Fehler, genauso wie der, ihn als Ergebnis einer politisch schwierigen Phase anzusehen, ihn als sympathischen und ein wenig bauernschlauen Unternehmer zu beschreiben. Der eigentliche Irrtum bestand darin, ihn nie ernst zu nehmen.

Aber auch die italienischen Medien sind das Problem nie aus der richtigen Perspektive angegangen. Ich glaube, dass die Beziehung zwischen den Italienern und Berlusconi immer noch nicht richtig analysiert worden ist. Eine Beziehung, die sehr viel komplizierter ist, als sie auf den ersten Blick erscheint, denn die Figur Berlusconi birgt in sich Elemente starker Wahrhaftigkeit.

Jetzt wird man mir sagen: Wie ist das möglich? Ausgerechnet er, der als Meister der Lüge dargestellt wird, als ein Mann mit der unleugbaren Fähigkeit, die Wahrheit zu verdrehen. Wie kann man diesen Menschen mit so etwas wie Wahrhaftigkeit in Zusammenhang bringen? Aber auch wenn ich mich da auf einsamem Posten befinde, möchte ich auf meiner These bestehen. Ja, Berlusconi birgt Wahrhaftigkeit und Wahrheit in sich, weil sich gerade in seinen Widersprüchen, sogar in seiner Unmoral das Land wiedererkennt.

Der italienische Autor, der seit 2006 unter Personenschutz lebt, spricht über die momentane Stärke der Mafia, über Parallelen seiner Arbeit zu Wikileaks und über seine persönlichen Träume. [Video kommentieren]

Um deutlicher zu werden: Berlusconi gibt Dinge von sich, die in jedem anderen Land zu einer Staatskrise führen würden. Etwa wenn er sagt: "Lieber ein schönes Mädchen anschauen, als schwul zu sein" oder wenn er auf einem Gruppenfoto mit ausländischen Regierungschefs hinter dem Rücken eines Kollegen seine Finger zu Hörnern formt. Wie um zu sagen, dieser Politiker werde gerade von seiner Ehefrau betrogen!

Und doch werden in Italien solche Ausrutscher als Beweise für die mentale Gesundheit eines Mannes, der zu leben weiß, interpretiert. Berlusconi hat es geschafft, mit seiner Persönlichkeit das Land zutiefst zu spalten.

Wer die Dinge, die er tut, nicht tut oder sie gar ablehnt, wird als Heuchler empfunden. Als einer, der zwar auch gern einem schönen Frauenhintern hinterherschaut, aber nicht aufrichtig genug ist, das auch zu sagen. Viele Italiener denken, dass Berlusconi bei all seinen Verfehlungen im Grunde zutiefst menschlich bleibt. Er zeigt menschliche Schwächen, weil er "einer von uns" ist, und eigentlich "wollen wir sein wie er". So denken die einen. Und brandmarken dann die anderen als Heuchler und Lügner. Diese Vorstellung mag oberflächlich erscheinen, aber sie ist mit dem Vorwurf verbunden, dass Berlusconis Gegner von der Linken zwar hehre, moralisch einwandfreie Versprechungen gemacht haben, während ihrer Regierungszeit aber die großen Reformen dann doch nicht anpackten.

Die Linke trifft nicht den Bauch des Landes, deshalb ist sie nicht mehr in der Lage, große Leidenschaften zu entfachen. Dabei kann sich der Instinkt der Masse doch durchaus in bürgerliches Engagement und leidenschaftliche Partizipation verwandeln. Aber die italienische Linke schafft es nicht mehr, ihr Katalysator zu sein. Berlusconi hingegen hat es geschafft, wie ein Magnet auf eine Eigentümlichkeit unseres Volkscharakters zu wirken, die man nicht unterschätzen darf. Ich meine den italienischen Individualismus – eine Eigenschaft, die für sich gar nicht schädlich wäre, wenn sie nur mit dem Respekt für Recht und Gesetz einherginge. Denn Regeln und Gesetz brauchen wir, um besser zu leben, sie weisen uns den Weg, um unseren Platz und unser Glück zu finden. Gleichgültig, ob wir Fließbandarbeiter, Unternehmer oder Musiker sind.

Eine sehr italienische Idee hingegen besagt, dass Recht und Gesetz der Selbstverwirklichung und der Freiheit des Einzelnen im Wege stehen. Vor allem im Süden ist es deshalb verbreitet, unter Aufbringung unseres ganzen Talents die Vorschriften zu umgehen. Der Einzelne ist umso tüchtiger, als er es versteht, an den anderen und deren Regeln vorbeizuziehen. Dabei geht es nicht um Wettbewerb, Konkurrenz oder eine andere Form transparenter Auseinandersetzung, sondern um Weiterkommen durch Übervorteilung und Betrug. Nicht umsonst gibt es die These, dass der Süden Grandioses vollbringen könnte, wenn die Mafiosi ihr Talent in legale Machenschafteninvestieren würden.

Aber genau das ist der Punkt: Wenn das Gesetz als ein Element empfunden wird, das deine Lebensbedingungen verschlechtert, wenn du den anderen als ein Hindernis und nicht als einen Verbündeten auf deinem Weg zu einem besseren Leben verstehst – dann lebst du, wie wir in Italien, in einer Art permanentem Kriegszustand. Krieg gegen die Regeln, Krieg gegen die anderen.

Ein Teil der Italiener empfindet die Einhaltung der Regeln als negativ, für einen anderen Teil bedeutet das Gesetz zu respektieren nur ein nutzloses moralisches Opfer. "Ich bin ehrlich, und deshalb bin ich arm." Oder: "Ich bin ehrlich, und deshalb mache ich keine Karriere." Dieser gedankliche Kurzschluss hat für eine beispiellose moralische Ausweglosigkeit in allen Bereichen des Landes gesorgt. Deshalb ist es so schwierig zu verstehen, ob Berlusconi der Grund für unsere Krise ist oder vielmehr eine der Folgen.

Was man nicht abstreiten kann, ist, dass er es geschafft hat, unser Land in den letzten Jahren zum Träumen zu bringen. Er hat es geschafft, uns davon zu überzeugen, dass dank seines Einsatzes eine Welle linker Macht aufgehalten wurde, die große Schäden in der Wirtschaft angerichtet hätte. Vor allem im Nordosten des Landes fühlten sich die Unternehmer nicht von einer Mitte-links-Regierung unterstützt, die nicht in der Lage war, die Steuerlast zu erleichtern und die Steuergesetze zu vereinfachen. Berlusconis Stärke bestand nun darin, die Antriebskraft dieser Unternehmen zu verteidigen oder doch zumindest diesen Eindruck zu erwecken. Vor allem aber überzeugte er das Land davon, dass unter seiner Regierung alle Unternehmer werden könnten. Wer es mit seinem Lohn gerade zum Monatsende schaffte oder vielleicht noch nicht einmal das, konnte in Berlusconi den Traum sehen, selbst ein Unternehmer zu werden und sich so endlich von der Lohntüte zu befreien.

Denn Berlusconi verkörpert den Prototyp des Unternehmers, der die Italiener mit seinem Lächeln verzaubert, mit seinem Erfolg bei den Frauen, mit seiner entwaffnenden Art zu sagen: "Ich bin ein Mann, der viel arbeitet, der dann aber auch das Leben genießt." Der Italiener erkennt sich in ihm wieder, will ihm ähneln, will werden wie er. Und er träumt, dass er früher oder später selbst ein Unternehmer wird, der die anderen kommandiert, anstatt selbst kommandiert zu werden. Mit dieser Perspektive aber ist er bereit, alles zu ertragen, die Krise, die Ungerechtigkeiten. Und nie gibt er dafür Berlusconi die Schuld, sondern dem allgemeinen Klima oder den Fehlern der Minister, nur Berlusconi ist für nichts verantwortlich zu machen. Wenn ihn die anderen nur arbeiten ließen! Denn er verspricht, was sicher eintreffen wird. Er verkörpert den Traum, auf den keiner verzichten will. Also wird dein Leiden als Arbeiter von heute belohnt werden mit deinem Glück von morgen, wenn du Unternehmer sein wirst. Endlich ein Kollege von Berlusconi, ohne Regeln über dir, und endlich kannst du die Befehle erteilen.

Nicht von ungefähr ist Berlusconi auch der Chef in einem großen Harem. Es ist abwegig zu denken, dass das ganze Land geschockt gewesen wäre, als die Geschichten über seine Feste und seine angeblichen Beziehungen zu sehr viel jüngeren Frauen öffentlich wurden. Als vor zwei Jahren etwa seine Freundschaft zu der gerade erwachsenen Neapolitanerin Noemi ruchbar wurde, lauteten die Kommentare: "Was für ein toller Typ unser Premier! In seinem Alter..." Berlusconi hat um seine Männlichkeit einen Heldenepos geschaffen. Mit den Leuten, die ihn umgeben, spricht er oft darüber, macht Witze.

Alles, damit wir vergessen, dass es hier um einen fast 80-Jährigen geht, der eine Prostataoperation hinter sich hat und dessen Manneskraft weder selbstverständlich noch natürlich ist. Ein Umstand, der Mitleid erregen könnte, er aber schafft es, seine Schwäche in eine Stärke zu verwandeln, omnipotent zu erscheinen. Das ist das Kommunikationsgenie Berlusconi, er teilt uns mit: Ich bin alt und krank, aber meinen Harem befriedige ich trotzdem. Und was einfach nur banale Vulgarität oder gar eine senile Obsession sein könnte, wird eine Kraft, die über sexuelle oder moralische Grenzen hinausgeht. Berlusconi weiß genau, dass sich das Volk auch darin mit dem Herrscher identifiziert.

Er ist das Beispiel, dem alle folgen, aber um ihn herum herrscht totale Leere. Die soziale Durchlässigkeit in unserem Land ist gleich null. Die Menschen sind beherrscht von einem prekären Leben, das ihnen alles nimmt: die Zeit, sich zu bilden, die Zeit sogar für Gefühle. Einer prekären Lebenssituation aber entspricht ein prekäres Lebensgefühl.

Auch die Linke ist in den letzten Jahren nicht frei von Sexskandalen geblieben, manchmal garniert mit der Beteiligung von Transsexuellen und Drogen. Angesichts dessen sagen die Leute: "Na schön, Berlusconi gefallen die Frauen. Wie uns allen. Was soll daran schlecht sein?" Und der nächste Gedanke ist: »Besser Frauen als Transsexuelle und Drogen.« Und das ist der Sieg des Berlusconismus, dass die Leute nicht mehr sagen: "Wir tun gewisse Dinge nicht", sondern: "Wir tun alles Mögliche, aber das machen doch alle!" Daher kommt eine verheerende Verallgemeinerung: Wenn wir schon alle im Schlamm wühlen und nur noch eklig sind, dann soll wenigstens der Beste gewinnen. Also der Schlauste. Zieht alle den Kopf ein und duckt euch, denn wir sind alle schuldig, wir haben alle unsere Leichen im Keller und unsere Huren im Schrank. Nur der Schlauste schafft es. Wer gegen mich ist, ist nicht besser als ich. Er ist genauso verdorben wie ich, nur nicht so gerissen.

Das Problem mit Berlusconis Frauen ist nicht, dass sie seine Geliebten sind. Es geht nicht um sein Privatleben, sondern darum, dass seine angeblichen Haremsfrauen Ministerin, Abgeordnete, Regionalassessorin werden. Die Selektion der politischen Klasse erfolgt nicht mehr nach Verdiensten, und das verändert das Land durchgreifend. Es ist auch nicht mehr so, dass ein hübsches und intelligentes Mädchen einem ebenso intelligenten, aber nicht so hübschen Mädchen vorgezogen wird, sondern dass ein einziges Element reicht, um nach vorn zu kommen: Schönheit. Und diese Schönheit gibt es auch nur noch in einer Kategorie, denn die Frauen müssen alle große Brüste und hohe Wangenknochen haben. Wenn man genauer hinschaut, sehen sie alle gleich aus.

Ich möchte mit dem Satz des kalabrischen Schriftstellers Corrado Alvaro schließen: "Das Schlimmste, was einer Gesellschaft passieren kann, ist zu denken, dass Ehrlichkeit sinnlos ist." So ist es bei uns seit über 20 Jahren. Es gibt für die italienische Gesellschaft nur noch zwei Dogmen. Das erste: Ehrlichkeit ist sinnlos. Das zweite: Wer es geschafft hat, kann demnach nicht ehrlich gewesen sein. Egal, ob du einen Bestseller schreibst, Bürgermeister wirst oder Chefarzt.

Das alles macht unser Land zutiefst verbittert und nimmt uns die Hoffnung, es eines Tages verändert und verbessert zu sehen. Und doch ist unsere Tragödie nicht nur ein italienisches Drama. In seinem Meisterwerk Die Hautschreibt Curzio Malaparte: "Wenn ich nach Berlin reise, wenn ich nach London fahre, wenn ich nach Paris fahre oder nach Madrid, finde ich Neapel. Das Schicksal dieser Städte ist es, Neapel zu werden."

Italien ist heute ein Labor für das, was auch woanders geschehen kann. Und nicht eine sympathische oder lächerliche Ausnahme.

Aufgezeichnet und übersetzt von Birgit Schönau

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